„Das fühlt sich alles sehr seltsam an“

Das erste Wochenende mit weitgreifenden Corona-Einschränkungen: Eine Situationsbeschreibung

Bad Gandersheim. In den Tagen des hinter uns liegenden Wochenendes haben die Menschen in Bad Gandersheim und Umgebung versucht, zu begreifen, was da in der vergangenen Woche in der Roswithastadt wie ganz Deutschland über uns gekommen ist. Wie Dominosteine fielen die Entscheidungen. Immer stärkere Restriktionen im Zusammenhang der Maßnahmen zur Verlangsamung der Ausbreitung des Corona-Virus’ sorgten für Schulschließungen und die Empfehlungen der Behörden für – jetzt noch meistens freiwillige – Absagen von Veranstaltungen, Treffen und Aktivitäten.

Im Grunde legte dies in der Konsequenz in fast allen Bereichen das soziale Leben lahm. Vor allem das Vereinsleben in Stadt und Dörfern wurde praktisch von gleich auf jetzt komplett heruntergefahren. So gut wie alle Sportvereine haben sich – den Schulschließungszeiträumen parallel – entschlossen, alle Aktivitäten und den Übungsbetrieb komplett einzustellen. Das Gleiche gilt für das sonstige Vereinsleben.

So etwas hat Deutschland vermutlich seit den Verhältnissen im Zweiten Weltkrieg in den letzten 75 Jahren nicht mehr erlebt. Die Älteren werden sich vielleicht noch an die Ölkrise in 1973 erinnern, die der damaligen BRD vier autofreie Sonntage einbrachte. Das war schon ein ungeheurer Einschnitt, den viele auch als Beschneidung der persönlichen Freiheit empfanden.

Gemessen an dem, was in den letzten sieben Tagen in Deutschland passiert ist, beinahe schon zu belächeln. Zumal damals niemand gesundheitlich in Gefahr war, die autofreien Sonntage ließen sich also in Gemeinschaft wunderbar anders verbringen. Kaum so in Zeiten eines Virus’, der dem einzelnen Individuum im Normalfall zwar an sich gar nicht so viel schaden kann, aber durch seine hohe Infektionsrate zur explosiven Gefahr für das gesamt Gesundheitssystem werden könnte.

Oder, um es anders zu sagen: Sich selbst mit Corona anzustecken, ist für die allermeisten Betroffenen eher harmlos. Gefährlich aber, das Virus an Menschen weiterzugeben, denen es lebensgefährlich werden könnte. Deshalb die ungewohnt einschneiden Eingriffe in die persönliche Freiheit.

Das fühle sich ziemlich seltsam an, sagten einige Gandersheimer an diesem Wochenende. Nicht nur ungewohnt, sondern auch verunsichernd, zumal mit der Geschwindigkeit, wie Anordnungen und Entscheidungen über uns gekommen seien. Die Verunsicherung rührt auch daher, dass es ständig weitere Einschnitte gibt, die wir so bislang nie brauchten.

Grenzschließungen zum Beispiel. Oder die verordnete Schließung von Geschäften, Beherbungsbetrieben und anderem mehr. Schon heute rechnen viele Menschen auch in Bad Gandersheim, dass in den kommenden Tagen noch weitere Beschränkungen erlassen werden, selbst wenn bislang im Landkreis Northeim nur fünf bekannte Infektionsfälle festgestellt wurden. Zu den möglichen Maßnahmen könnten dann auch irgendwann Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit gehören.

Die dahinter stehende Sorge hat in den letzten Tagen tatsächlich in Discounter-Märkten der Stadt für teilweise leere Regale gesorgt. Hamsterkäufe sind ein Ausdruck dafür, dass die Gandersheimer vielleicht damit rechnen, demnächst auch ganz zuhause bleiben zu müssen.

Soweit ist es zwar noch nicht, aber die Geschehnisse in Ländern wie Italien oder Österreich lassen erahnen, was bei uns noch bevorstehen könnte. Und Polen hat die Schließung aller Geschäfte unter Zuteilung von Ausnahmegeschäftszeiten für Apotheken und Lebensmittelgeschäfte schon vorgenommen, obwohl im gesamten Land noch deutlich weniger Infizierte bekannt sind als den übrigen europäischen Staaten.

Wie sieht der Stand in Bad Gandersheim zu Wochenbeginn aus: Nach den Absagen vor dem und am Wochenende darf getrost davon gesprochen werden, dass es derzeit kein öffentliches, soziales Leben bisher bekannter Form mehr gibt. Terminkalender bleiben leer, kaum jemand hat noch Freizeitverpflichtungen.

Unabhängig davon findet das normale Berufsleben aber weiter statt. Behörden und Ämter arbeiten, ab heute aber zumeist ohne Besucherverkehr und zahlreichen internen Sicherheitsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung des Dienstbetriebes. Auch in den Schulen wird gearbeitet – aber ohne Schüler.

Die allermeisten Geschäfte haben normal geöffnet. Wie man dabei auf Hygiene und Infektionsfreiheit achtet, bleibt weitestgehend den Betreibern selbst überlassen. Versorgungsengpässe sind derzeit allenfalls im Bereich der Desinfektionsmittel oder einiger medizinischer Artikel bekannt. Das normale Lebensmittelangebot ist nicht betroffen – von den zuletzt getätigten und sicher manchmal eher wenig sinnvollen Hamsterkäufen einmal abgesehen. Da die Lieferketten aber auf jeden Fall aufrecht erhalten und sogar noch gestärkt werden sollen, wird es bald überall wieder Toilettenpapier und Nudeln geben.

Auch das Gastgewerbe kann noch öffnen, solange es noch nicht wie in anderen Ländern bereits eine Anordnung gibt, zu schließen. Fraglicher ist da schon, wie viele Menschen sich im Moment noch trauen, „unter die Leute“ zu gehen.

Für viele Menschen ist das aber derzeit nicht die größte Herausforderung. Die liegen oft in ganz praktisch täglichen Dingen. Wie für berufstätige Eltern, binnen weniger Tage für das plötzlich schulfreie Kind eine Betreuung zu organisieren. Oder – gerade für Jugendliche – nun über einen sinnvollen Zeitvertreib zu entscheiden. Denn gerade die junge Generation hat so etwas noch nie erlebt, für sie ist der Einschnitt noch krasser als für die meisten Älteren.

Am Sonntag hatten manche dafür eine Lösung: Bei einem ersten Eindruck nach aufkommendem Frühling ging es hin­aus. Auf die Trasse zum Beispiel. Dort sei so viel los gewesen, wie lange nicht mehr, berichteten Radfahrer, die schwer Durchkommen hatten. Hier herrschte offenbar weniger Angst als ein Stück Sorgenfreiheit.rah