Den „Glöckner“ verstehen – und sein Paris

Eindrucksvolle Lesung mit Musik / Jan Kämmerer und Vassily Dück im Kaisersaal

Bad Gandersheim. Nicht nur auf der großen Bühne vor der Stiftskirche oder auf der Empore der Klosterkirche in Brunshausen haben die Domfestspiele Kostbarkeiten zu bieten. Solche finden die Besucher – und dies vorwiegend einheimische – auch und vor allem zusätzlich im Rahmenprogramm. Das der 61. Festspiele startete am Montagabend mit einer bemerkenswerten Lesung in die sogenannten „Extras“.

Es war gewiss nicht nur dem Umstand zu verdanken, dass Jan Kämmerer diesen Abend – zusammen mit Vassily Dück am Akkordeon – gestaltete, sondern auch dem Thema „Der Himmel über Paris“, in unter dem es laut Untertitel um „Ungespieltes aus dem ‘Glöckner von Notre Dame’“ gehen sollte. Der Kaisersaal als Ort dieses Abends wurde fast voll, eine sehr gute Resonanz. Und wer gekommen war, sich auf das noch Ungewisse, das dem Titel inne lag, eingelassen hatte, sollte es nicht bereuen.

Jan Kämmerer hatte die Betrachtungen rund um den „Glöckner“ und das Paris jener Zeit in drei Abschnitte aufgeteilt. Im ersten ging es um den „Glöckner“ selbst, in dem es einen Ausspruch gibt – der auch in der Inszenierung vorkommt –, nach dem das gedruckte Wort in der Lage sei, sogar feste Gemäuer zu vernichten. Kämmerer erläuterte, wie es zu diesem Ausspruch kam und wieviel Wahrheit in ihm tatsächlich ruhe.
Das 15. Jahrhundert, in dem der „Glöckner“ spielt, sei eine Übergangszeit gewesen. Die Menschheit stand nach dem Mittelalter vor dem Aufbruch in die Moderne. Und in die gehörte auch die Erfindung des Buchdruckes. Bis dahin habe das gesprochene und abgeschriebene Wort dominiert. Die „Sprache“ der Menschen aber sei 6000 Jahre lang zuvor etwas anderes gewesen: ihre Architektur.

An eindrucksvollen Vergleichen machte Kämmerer deutlich, wie Bauwerke zugleich Überlieferungen dargestellt hätten. Aussagen von Kulturen, die mit dem Gebauten auch den kommenden Generationen etwas mit auf den Weg gaben. Architektur war der Weg, sich zu verewigen. Das alles war mit dem Aufkommen gedruckter Worte nicht mehr gültig. Die Baukunst verlor in der Folge ihren Rang als höchste der Künste und wurden von anderen verdrängt.

Im zweiten Abschnitt des Abends ging es um die Frage, welche Auswirkungen dies auf ein so gigantisches Bauwerk wie Notre Dame gehabt hat. Verheerende, so das Fazit der Ausführungen. Die Kirche selbst sei ursprünglich eine Mischung aus Romanik und Gotik gewesen, stellte Kämmerer an zahlreichen bautechnischen Beispielen fest.

Über die Jahrhunderte hat sich ihr Bild dann aber zunehmend verändert: „Die Moden der Zeit haben dabei mehr Schaden angerichtet als alles andere“, so Kämmerer. Immer wieder seien Architekten ins Bild getreten, die mal diese, mal jene Zeitströmung in den Bau eingetragen hätten. Das sei geradezu einer Vergewaltigung des Baus gleichgekommen, die ihn schließlich „zur Fratze verschandelt“ hätten.

Die Ausführungen über den Einfluss der Zeiten auf die Architektur schweiften aber von der Kirche auch auf andere Bauwerke in Paris und gipfelten in einer empörten Abkanzlung dessen, was Epochen an schlimmen Auswüchsen durch Vermischung verschiedenster Baustile zusammen gebracht hätten – wie am Beispiel der Börse.

Was blieb war die Feststellung: „Der Stamm ist unveränderlich, das Laub wandelbar“, sollte für Notre Dame heißen: Die ursprüngliche Kirche ist zwar noch erkennbar, orientiert sie sich doch in der Struktur klar an den romanischen Basiliken, das Drumherum oder die Ausgestaltung aber genau wie das Laub von Bäumen dem steten Wandel unterworfen.

Für den dritten Abschnitt war eine Karte des heutigen Zentrums von Paris von Bedeutung, die während der ganzen Lesung wie eine Art Kulisse hinter Jan Kämmerer gestanden hatte, und nun ganz in den Mittelpunkt rückte. Ging es doch um ein Bild der Stadt, wie sie wohl um 1482 zu Zeiten des Glöckners ausgesehen haben soll. Der Titel des Abends wandelte sich an dieser Stelle von „Der Himmel über Paris“ zu „Über den Dächern von Paris“ – und dies aus der Sicht eines Betrachters, der sich auf den Turm der Kirche Notre Dame hinaufgewagt hat, um dann diesen – auch heute noch – atemberaubenden Anblick zu genießen.

Paris damals sei in drei Teile geteilt gewesen, erläuterte Kämmerer: die sogenannte Universitätsstadt im Süden der Seine, die Cite mit der Insel, auf der auch Notre Dame steht, und die größere Stadt im Norden der Seine, heute der Bezirk Marais. Anhand der Karte zeichnete Kämmerer das Bild der Stadt nach, die eine Umschließung hatte, deren Verlauf noch immer an Straßenzügen nachvollziehbar ist, obwohl Verwallungen, Wassergräben und Befestigungen samt der Eingangstoren längst verschwunden sind.

Das grundlegende Muster der Straßen stammt schon aus jener Zeit, die Hauptachsen liegen auch heute noch so. Wie der Stamm eines Baumes, von dem die Labyrinthe zwischen den zahlreichen Häusern wie Äste abzweigen. Kämmerer ließ vor den geistigen Augen der Zuhörer das Bild einer pulsierenden, schönen Mittelalterstadt entstehen. Mit klaren Strukturen, wie dem studentengeprägten Süden, der Lebensader Seine, der Insel mit der typischen Schiffsform, die es sogar bis ins Wappen der Stadt schaffte, sowie einem lebendigen Norden, wo Handel und Gewerbe ansässig waren, aber ebenso prächtige Bauten des Adels entlang der Seine angesiedelt und Paläste gebaut worden waren, die wir heute noch vorfinden. Am Ende konnte sich der Zuhörer wirklich so vorkommen, als sei er der Rabe, der dies alles vom Turm Notre Dames so sehe.

Begleitet wurde die eindrucksvolle Lesung durch vier Musikstücke, die Vassily Dück in sehr passender Auswahl zwischen den einzelnen Abschnitten spielte. Sie unterstrichen das Gehörte auf besondere Weise und ließen den Abend zu einem „erlesenen“ Erlebnis werden.rah

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