Ein mehr als würdiger Abschied

Martin Heubachs letztes Konzert erlebte eine bis auf den letzten Platz ausgebuchte Stiftskirche

Martin Heubach dirigierte bei der Aufführung des Weihnachtsoratoriums am Wochenende zum letzten Mal.

Bad Gandersheim. Wie bestellt überzog eine zarte Schneedecke das abendliche Bad Gandersheim termingerecht zur Aufführung des „Weihnachtsoratorium“ von J.S. Bach im Dom. So kamen die vielen Menschen schon vorweihnachtlich eingestimmt in den kunstvoll ausgeleuchteten Dom. Dort erlebten sie das letzte Kantorei-Konzert, das Domkantor Martin Heubach dirigierte. Denn im kommenden Jahr beginnt sein Ruhestand.

Wer ihn aber nun am Dirigierpult erlebte, möchte das gar nicht glauben. Hellwach, souverän und mit einer glücklichen Mischung aus Temperament und Kontemplation führte er die große Schar von Mitwirkenden durch den barocken Weihnachtsklassiker, der für viele Menschen einfach zum Weihnachtsfest dazu gehört. Ein Großensemble hatte der Kantor für diese bemerkenswerte Aufführung zusammengeführt. Im hoch aufgestuften Altarraum vereinten sich die Stimmen der Kantorei, des Kammerchores Capella Vocale und der jugendlichen Domsingschule mit den Solisten und dem Göttinger Barockorchester zu einem klangvollen und hoch engagierten Klangkörper.

Dass Heubach einer historisch orientierten Aufführungspraxis tief verbunden ist, hörte man schon bei den ersten berühmten Paukentakten des Werkes. Hier wurde nicht einfach die Pauke geschlagen, sondern der Paukist René Münch spielte mit plastisch sprechender Artikulation. Diese Kunst, Musik als konturenreiche Klangrede zu gestalten, setzte sich dann in allen Instrumentengruppen fort. So entwickelte sich schon der Eingangs­chor zu einem Bravourstück barocker Aufführungspraxis voller elektrisierender Spannung.

Das setzte sich fort im virtuos groovenden „Ehre-Chor“ der Engelschar, bei dem Heubach tempomäßig mächtig Gas gab. Und der Eingangschor zur 3. Kantate „Herrscher des Himmels“ geriet inklusive der munter schnurrenden Koloraturen des Chores zu einem tänzerisch-fröhlichen Lobpreis. In der immer wieder unter Barockspezialisten diskutierten Frage nach dem richtigen Tempo steht der Dirigent eher auf der tempofreudigen Seite. Das gibt der gesamten Aufführung Frische und Lebendigkeit.

Es kann aber auch dazu führen, dass trotz perfekter technischer Beherrschung das eine oder andere Stück seinen Tiefgang verliert. So wird das mit „Pastorale“ überschriebene instrumentale Wunderwerk zu Beginn der 2. Kantate zum recht flotten Siciliano und der ausdrucksstarke Dialog zwischen Sopran und Bass „Herr, dein Mitleid“ ein wenig atemlos.

Gleichwohl waren hier zwei sängerisch bemerkenswerte Persönlichkeiten unterschiedlicher Generation zu hören. Die herrlich gesund singende Sopranistin Magdalene Harer gehört inzwischen zur ersten Garde der jungen Sängergeneration, während in Klaus Mertens bewegende Gestaltungskraft die Erfahrungen einer jahrzehntelangen hochkarätigen Karriere einfließen. Mit Jan Hübner gesellte sich zum Solisten-Ensemble ein Tenor, der mit leicht geführter stimmlicher Beweglichkeit die Evangelienerzählung zu einer anrührenden persönlichen Verkündigung formte. Und die Hirtenarie „Frohe Hirten“ mit ihren haarsträubend virtuosen Koloraturen wurde bei ihm im Duett mit der einfühlsam spielenden Flötistin Tami Krausz zu einem musikalischen Ereignis.

Die Altistin Yuliya Onishko hinterließ dagegen einen ambivalenten Eindruck. Einerseits bringt sie einen kernigen gut durchgearbeiteten Altklang mit. Andererseits vermisste man die Weichheit, die zum Beispiel der Arie „Schlafe mein Liebster“ die nötige Wärme verleiht oder die meditativen Tiefen zu erschließen vermag, die ihr vom sensibel artikulierenden Solo-Geiger Henning Vater in der Arie „Schließe, mein Herze“ aufgezeigt wurden.

Von zentraler Bedeutung sind in allen Bach-Oratorien und Kantaten die Choräle. Das liegt an der einzigartigen Art und Weise, mit der Bach in den Begleitstimmen Theologie mit Tönen betreibt. Dem entsprach Heubachs Choralinterpretation an vielen Stellen. Wunderbar, wie er mit kräftigem Zugriff mit dem Choral „Brich an, du schönes Morgenlicht“ die Wende von der vorher geschilderten Furcht der Hirten zur Zuversicht einleitete; oder wie er dem innigen Grundton des Chorals „Schaut hin“ nachlauschte oder die zum Schlusschor hindrängende Steigerung des Chorals „Seid froh dieweil“ aufbaute. Und im Choral „Er ist auf Erden kommen arm“ zeigte sich die Domsingschule mit bereits stimmlich sehr gut entwickelter Qualität.

Vor dem Hintergrund dieser intensiven und beeindruckenden Abschiedsmusik war das zu Beginn des Konzertes von der Capella Vocale präsentierte „Magnificat“ von J.S. Bach fast eine Nummer zu viel.

Zumal man auch dabei mit einer spannungsreichen und dichten Interpretation konfrontiert wurde. Hier trat zu dem bereits erwähnten Solisten-Quartett mit überzeugender Gestaltung die schwedische Mezzo-Sopranistin Karin Gyllenhammar dazu.

Zu einem Höhepunkt dieser berühmten Vertonung des Lobgesangs der Maria wurde das Alt-Tenor-Duett „Et misericordia“ und das chorisch gesungene Terzett „Suscepit Israel“, bei dem sich genauso wie in der Fuge „Sicut locutus est“ zeigte, welche hervorragenden Stimmen im Kammerchor singen. Allerdings erwies sich der Chor dann im vollen Tuttiklang dem Orchester über weite Strecken dynamisch unterlegen. Hier wäre ein stärkerer Stimmzugriff oder eine etwas größere Chorbesetzung wünschenswert gewesen. Ansonsten aber zeigte auch dieses Werk, dass Martin Heubach zu den herausragenden kirchenmusikalischen Interpreten gehört, auf den die Domkirche und die ganze Landeskirche stolz sein kann.

Welcher Geist den Domkantor all die Jahre getragen und bestimmt hat, zeigte sich dann am Schluss des Konzertes. Sehr rasch beendete Martin Heubach die beginnenden jubelnden Standing Ovations mit einem Appell, die Zukunft der Domsingschule einschließlich der Partnerschaft mit dem Roswitha-Gymnasium zu sichern. Und dann gab er ein bewegendes und durchaus zu Tränen rührendes geistliches Statement ab: mit dem großen Friedensgebet aus Bachs h-moll-Messe „Dona nobis pacem“ beendete er seinen Abschied und bat, den Dom nunmehr schweigend zu verlassen. Well done, dear Kantor. Claus-Ulrich Heinkered