„Eine hoch emotionale Entscheidung“

Nach der Absage flossen auch Tränen / Intendant Achim Lenz im Gespräch

Bad Gandersheim. Am Montag fiel die Entscheidung: Die Domfestspiele 2020 werden nicht stattfinden. Eine Entscheidung mit gravierenden Auswirkungen in vielen Bereichen. Das Gandersheimer Kreisblatt im Gespräch mit Intendant Achim Lenz über die schwere Zeit vor der Entscheidung, den Tag der Absage und die nicht minder schwere Zeit danach.

GK: Die Absage ist ja nach außen ein eher technischer Vorgang. Dahinter stehen aber ziemlich emotionale Entscheidungsvorgänge. Wie haben Intendant und Geschäftsführer sowie andere Beteiligte dies erlebt?

Achim Lenz: Zum einen ist es für den Intendanten ein rationaler, aber eben auch ein emotionaler Moment. Tränen sind mir tatsächlich erst nach der Aufsichtsratssitzung gekommen, als ich über den Platz gelaufen bin und die Kirche gesehen habe. Viele Tränen kommen auch erst jetzt in den Gesprächen danach, zum Beispiel mit den Mitgliedern des geplanten Ensembles.

Das ganze Ensemble hat sich sehr vorbildlich verhalten. Wir haben es wöchentlich mit einem Update auf dem Laufenden gehalten, was wir tun. Es sollte auch nicht nach außen dringen, das wir anfangs mit einer totalen Verzweiflung gekämpft haben.

Unser erster Gedanke war immer: Wie können wir trotzdem etwas machen? Wir haben wirklich alle möglichen Varianten durchgespielt. Leider geht es für die gGmbH natürlich vornehmlich auch ums Geld. Wir sind zu 80 Prozent von Einnahmen der Kartenverkäufe abhängig. 20 Prozent sind Sponsoren und Fördergelder. Die alle kommen ohne Festspiele nicht. Wir können keine Ausfallhonorare zahlen oder Kurzarbeitergeld. Etwas, was manch anderer Festspielort, vor allem bei kommunaler Trägerschaft, kann.

Bevor wir also absagen mussten, wollten Thomas Groß und ich wirklich alle denkbaren Möglichkeiten sortiert auf dem Tisch haben. Und wir wollten zweitens eine klare Aussage aus der Politik, die uns als Richtschnur für die Entscheidung dienen sollte. Diese Aussage aus der Politik ist nie eingetroffen. Wir haben also nur hochrechnen können, dass Domfestspiele auch in Zukunft nicht möglich sein würden. Aber nachdem alle Dinge ineinander gefallen sind, wurde auch der Druck auf uns immer höher, eine Entscheidung zu treffen.

Deshalb haben wir den Aufsichtsrat einberufen, was eigentlich erst für Ende nächster Woche geplant war, haben in einer längeren Sitzung am vergangenen Montag alle Dinge dargelegt und eine Beschlussempfehlung gegeben.

GK: Woher kam der Druck?

Lenz: Ich denke, aus der Öffentlichkeit, nicht vom Ensemble zum Beispiel. Und öffentliche Medien wie im Internet, in denen zum Teil unsägliche Geschichten in diesem Zusammenhang abgegangen sind, wo die Menschen in den Kommentaren die Absage geradezu gefordert haben. Von den Behauptungen, die in diesem Zusammenhang ausgesprochen wurden, ist aber nichts wahr.

Wir wollten uns aber einfach nicht drängen lassen, sondern eine klare Entscheidung treffen. Es gab einen Stichtag, zu dem wir uns entscheiden mussten: dem Tag des Aufbaus der Tribüne. Das hätte frühzeitig abgesagt werden müssen. Daher auch der frühere Termin der Aufsichtsratssitzung.

GK: Die Domfestspiele haben zusammen mit der Absage eine Bitte an die Zuschauer und Ticketerwerber gesandt: Lasst uns die Einnahme aus dem Vorverkauf, indem ihr die Tickets in Gutscheine umwandelt oder den Betrag sogar spendet. Wo wäre bei dennoch gewünschter Rückzahlung für die gGmbH die rote Linie, ab der es existenziell wird?

Lenz: Absehbar wird das alles für uns so richtig erst ab Juni, weil es zum Beispiel darum geht, die Sponsoringgelder abzurechnen, bei denen ich wenig Hoffnung habe, dass wir für 2020 solche erhalten. Ob Gelder aus öffentlichen Fördertöpfen fließen, wird sich ebenfalls erst im Juni zeigen. Ich könnte aber kaum nachvollziehen, wenn Bundes- oder Landeszuschüsse nicht kämen, da ich immer darauf hingewiesen habe, dass es um längerfristige Förderung geht. Diese Gelder fördern die Domfestspiele generell als Unternehmen, also nicht nur die jeweilige Spielzeit. Immerhin hat die gGmbH eine Reihe Festangestellter, deren Arbeit ja auch in diesem Jahr weitergeht, wenn es Festspiele in 2021 geben soll. Kartenzentrale und Verwaltung müssen weiter funktionieren.

Viele Arbeiten für die Vorbereitung der Festspielzeit 2020 sind längst getätigt und müssen damit natürlich auch bezahlt werden. Manches können wir im kommenden Jahr sicher wieder nutzen, wie das so gut wie fertiggestellte Magazin. Anderes nicht. Sollten wir Leistungen nicht bezahlen können, würden wir zahlungsunfähig.

Es sind doch die Domfestspiele der Menschen, die sie besuchen und sehen wollen. Daher unsere Bitte, uns solidarisch zu unterstützen, damit wir im nächsten Jahr wieder Domfestspiele stattfinden lassen können. Und ich bin mir sicher, dass die Künstler diese Solidarität zurückgeben, sobald sie können, und sei es in einem möglichen Kulturprogramm in Bad Gandersheim im Herbst/Winter, spätestens aber im nächsten Jahr. „Wir werden das in einem Mehrwert wieder zurückgeben, weil Ihr uns gerettet haben“, wollen wir den Menschen sagen.

Mit der Gutscheinlösung und erst recht der Spende besteht diese Möglichkeit, dass die Festspiele die Liquidität behalten können und über den Winter kommen. Verkaufte Karten gelten damit ja gleich für das nächste Jahr – was natürlich bedeutet, dass wir dann diese Einnahme nicht noch einmal haben werden.
Wir werden vermutlich etwa die Hälfte des Ensembles noch einmal casten müssen, obwohl ich allen für dieses Jahr verpflichteten Akteuren zugesichert habe, sie auch im nächsten Jahr wie geplant einsetzen zu wollen. Das muss aber passen, und so müssen wir sicher in manchem Fall neu verhandeln.

Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre wenn die allermeisten Ticketerwerber ihr Geld zurückfordern würden. Damit müssen wir natürlich erst einmal rechnen, hoffen aber auf eine große Solidarität, für die es schon zahlreiche persönliche Bekundungen gibt. So haben sich auch die Vermieter der Schauspieler durchweg sehr kulant gezeigt und die Verträge ohne Folgen aufgelöst.

Uns ist auch klar, was die Absage für die Gastronomie bedeutet. Sie war ein Grund, warum wir uns so spät entschieden haben.

GK: Die Frage nach Alternativen ist breit und auch öffentlich diskutiert worden. Was haben die Domfestspiele selbst tatsächlich als Möglichkeiten geprüft?

Lenz: Zum Beispiel eine Spielzeit unter Auflagen. Aber schon der Arbeitsschutz wäre nicht darstellbar gewesen. Juristisch wäre die Veranstaltung mit unter 1000 Besuchern möglich gewesen, aber es wären die Abstände ja auf der Tribüne gar nicht darstellbar gewesen. Und die Platzzahl zu reduzieren hätte Vorverkauf und Spielplan völlig über den Haufen geworfen. Hier tat sich also kein Weg auf.

Die Verschiebung um einen Monat haben wir durchgerechnet, ließ sich aber nicht zuletzt wegen der Anschlussverpflichtungen von Ensemblemitgliedern nicht machen.

Ein weiteres Modell wäre die Verringerung der Stückanzahl gewesen. Aber für welches Stück hätten wir uns entscheiden sollen? Die öffentlichen Mittel werden für Kinderstück und Schauspiel gezahlt. Eines hätten wir also aufnehmen müssen, mindestens eine Musikproduktion streichen. Auch dies hätte sich am Ende nicht gerechnet und zudem zu zahlreichen Willkürentscheidungen geführt, die wir nicht vertreten könnten.

Festspiele im Winter blieben als letzte Möglichkeit – aber das sind dann keine Domfestspiele. Die gehen nur im Sommer als Freilichttheater mitten in der Stadt. Wenn wir jetzt ein Herbst-Winterprogramm überlegen, ist da an etwas ganz anderes gedacht.

Theater online, da bin ich strikt dagegen. Auch die Praxis der letzten Wochen zeigt, dass es nicht wirklich angeschaut werden möchte. Theater lebt von der direkten Interaktion.

Filme gehen hingegen so gut! Autokino ist solch ein Trend, und ich fände es toll, wenn das Gandeon anstelle der Domfestspiele im Sommer Autokino auf die Beine stellen könnte.

GK: Die Schauspieler sind mit am stärksten durch die Absage Betroffenen. Welche Rückmeldungen bekommst, wie geht es den Menschen, die hier für uns spielen wollten?

Lenz: Beschissen! Für die Freischaffenden bricht die Existenzgrundlage zusammen. Viele müssen erst mal schauen, wie sie jetzt überhaupt an Geld für’s Leben kommen. Wenigstens ist vom Bund ein Signal gekommen, dass nun Künstlern wohl Ausfallgelder bezahlt werden können. In einigen Bundesländern gab es schon Gelder, in anderen nur Formulare. Zudem haben wir internationale Künstler, und in anderen Ländern ist wieder alles anders und oft schwierig, wie in Polen, wo es gar keine Rettungsschirme gibt.

Wenn die Politik uns verbietet zu arbeiten, dann muss sie uns auch dann irgendwie finanziell entschädigen. Tatsächlich zeigt die Krise aber wieder auf, dass Künstler wirklich am Ende der Kette stehen und Kultur als vorwiegend freiwillige Leistung angesehen wird.

Was oft auch nicht beachtet wird: Künstler arbeiten auch dann schon, wenn sie das Ergebnis noch gar nicht abgeliefert haben. Es wird ja viel in die Kreativität, die Vorbereitungen gesteckt, bevor ein Zuschauer das Ergebnis zu sehen bekommt. Das wird aber gemeinhin übersehen. Letztendlich kommt man zur Diskussion über das Grundeinkommen. Damit gäbe es solche Probleme wie heute nicht. Die meisten Schauspieler fallen jetzt dem Sozialamt anheim, sie müssen Hartz IV beantragen! Was das bedeutet, können die meisten, die es nicht selbst mal tun mussten, gar nicht ermessen.

GK: Thomas Groß musste am Montag nach der Aufsichtsratssitzung sofort zurück nach Wien, um nicht in Quarantäne genommen zu werden. Du bist vor Ort geblieben, wie war das Arbeiten über Videokonferenzen?

Lenz: Schwierig war für mich die Entscheidung, hierzubleiben, weil ich meinen Vater in der Schweiz zurücklassen musste und ihn auch jüngst zum Geburtstag nicht besuchen durfte. Es geht ihm aber gut. Ich konnte in Greene mit Garten wohnen, hier auf dem Land fühle ich mich auch jetzt eher frei und gar nicht eingesperrt.

Wir hatte eine gute Zusammenarbeit, auch mit Uwe Schwarz. Videokonferenzen empfinde ich durchaus als neu und erfrischend, nicht schwierig. Es gab auch mal in der Quarantäne nichts zu tun, da mussten wir eben abwarten, was passiert. Mürbe macht, wenn man täglich mit den Menschen sprechen musste, die alle die gleichen Probleme haben.

Wir sind es als Kreative gewohnt, ständig neue Konzepte auszuarbeiten, aber wenn man uns nicht einmal den Rahmen benennen kann, geht auch das nicht. Alles, was wir jetzt machen, ist Krisenmanagement.

GK: Die Domfestspiele gehören zur Gemeinschaft der zehn deutschen Festspielorte. Gab es Kontakte und den Versuch einer einheitlichen Linie?

Lenz: Wir haben uns frühzeitig zusammengefunden und auf dem Laufenden gehalten. Es half, dass man nicht allein war. Offen wurde alles gesagt. Zu einer gemeinsamen Erklärung sind wir nicht gekommen, weil die Festspiele unterschiedlicher Bundesländer und verschiedener Trägerschaften keine einheitlichen Voraussetzungen hatten. Bis auf Schwäbisch Hall und Ettlingen sind die anderen Festspiele inzwischen abgesagt, wobei niemand weiß, woher die beiden Verbliebenen den Optimismus nehmen.
Statt einer politischen Petition aus diesem Kreise haben sich die Domfestspiele dann einer angeschlossen, die von den Händel-Festspielen in Göttingen angestoßen wurde und inzwischen von 77 Musikfestival-Veranstaltern unterzeichnet wurden (GK berichtete).

GK: Blick nach vorn: Perspektive und Hoffnung?

Lenz: Als Künstler kann ich nur hoffnungsvolle Aussichten machen. Ich hoffe, dass es die Domfestspiele weiter so geben wird, wie wir sie kennen. Hoffnung macht mir der Zuspruch, den wir im Vorverkauf erlebt haben. Positiv ist die Fertigstellung des Probenzentrums, für das ich lange gekämpft habe. Das wird uns sicher helfen.rah

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